Ein Vortrag von Mag. Barbara Grabner

Einen historischen Streifzug mit eindrucksvollen Momenten genoss ein interessiertes Publikum am 28. September in unserem Vortragszentrum (Wien, Seidengasse 28). Die Journalistin und Historikern Mag. Barbara Grabner nahm die 500 Jahre seit der Reformation und die 100 Jahre seit der Russischen Revolution zum Anlass, die ideologische und soziale Entwicklung der 400-jährigen Periode von 1517-1917 zu beleuchten. Nachfolgend bringen wir einige Punkte ihres Vortrages:

Viele Theologen wie Laien verglichen die damalige Realität in Kirche und Gesellschaft mit dem Ideal der Urgemeinde und verlangten eine Gesellschaftsveränderung zu Gunsten der Besitz- und Rechtlosen. Bereits in den sog. Ketzer– und Armutsbewegungen des Mittelalters gab es Versuche um Gütergemeinschaften und antihierarchische Kirchenreformen. Religionsfreiheit und soziale Gerechtigkeit waren Anliegen fast der gesamten Bevölkerung, schon bevor Martin Luther seine Thesen an die Kirchentür von Wittenberg nagelte.

Reformbedarf herrschte an allen Ecken und Enden. Eine Bestandsaufnahme des Klosterlebens in Österreich (ohne westl. Bundesländer) zur frühen Reformationszeit ergab folgendes Bild: “In den 122 Klöstern lebten 340 Mönche, 160 Schwestern, 199 Konkubinen, 55 Ehefrauen und 443 Kinder. Alle Klöster waren tief verschuldet“. Zahlreiche Geistliche wechselten mitsamt ihren Gemeinden zu den Lutherischen über!

Die Bauern – von Luther inspiriert, von Luther verdammt: Die Lage der Bauern in Österreich war so wie in Deutschland und anderswo nicht weit entfernt von Sklaverei: Die Verarmung nahm zu, ausgelöst von der ungebremsten Habgier der Grundherren. Der Robot (Frondienst) war laut Gewohnheitsrecht an 12 Tagen im Jahr zu erbringen, wurde jedoch auf 30 Tage ausgedehnt. Ab 1550 durften die Adeligen bereits kleine Bauernkinder dienstbar machen. Schlecht behandelt, flohen diese von den Gutshöfen, mussten aber bei Strafe von ihren Eltern zu den Schindern zurückgebracht werden. Durch Martin Luthers Protest gegen den Ablasshandel wurde die Reformationsbewegung zum Funken für Aufstände. Deren Führer, namentlich der Theologe Thomas Müntzer, waren eindeutige Anhänger der Reformation. Als ein Bischof mitsamt Begleitung von aufständischen Bauern ermordet wurde, reagierte Luther wütend: „Man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich… wie einen tollen Hund“. Angesichts der unzähligen allein an Hunger gestorbenen Bauern eine unverständliche Haltung. Manche Bauernführer hatten ein revolutionäres Konzept: die Neugestaltung der Staatlichkeit, die Abschaffung der Obrigkeit, Armenfürsorge, Einschränkung des Großkapitals. Die Abweisung der Forderungen führte zur Radikalisierung der Aufständischen. Als die Bauern erkannten, dass die Lutheraner nicht auf ihrer Seite standen, wurden sie entweder Wiedertäufer oder erneut katholisch.

Wiedertäufer – Pazifisten & Revolutionäre übten Kritik an der Kooperation von Kirche und Staat. Wurzel des Übels: Kaiser Konstantin hat den Geist des Urchristentums ruiniert, denn Macht und Glaube passten nicht zusammen! Sie forderten die Trennung von Kirche und Staat, propagierten Pazifismus ausgehend von der Bergpredigt. Das kam weder bei Protestanten noch bei Katholiken gut an, denn das Reich wurde bedroht von den Türken (1529 vor Wien). Die Wiedertäufer wurden daher von Protestanten und Katholiken verfolgt. Zehntausende Wiedertäufer wurden ertränkt, verbrannt, lebendig begraben. Es begann die größte Verfolgung von Christen seit der Römerzeit. Allerdings verfolgten hier Christen (Katholiken, Protestanten) andere Christen (die Wiedertäufer). Nur wenige Fürsten gewährten den Wiedertäufern Asyl.

 Erasmus von Rotterdam, der Mahner und sein Mittelweg

Sein Neues Testament war Grundlage für die Lutherbibel und die King James Bible. Sein Einfluss war in Europa von überragender Bedeutung. Er betonte Verantwortung und den freien Willen des Einzelmenschen und forderte: die Kirche muss sich vom heidnischen Pomp lösen und soll die Menschen zu tugendhafter Lebensführung anspornen. Sein „Handbuch des christlichen Streiters“ war ein Bestseller. Wie Luther war er Mitglied im Augustinerorden, ebenso ein Vielschreiber: 150 Bücher. Obwohl von Herkunft ein „Bastard“ (Kind eines Pfarrers und seiner Haushälterin), gewann er Ansehen bei Gelehrten und bei Regenten. Lutheraner und Papisten versuchten ihn in ihr Lager zu ziehen, er widerstand allen und rief zur Mäßigung auf, denn sonst würden beide Seiten gewaltige Verluste erleben. Erst Jahrhunderte (!) nach seinem Tod, als die Flammen des Fanatismus erloschen waren, zollten ihm beide Seiten Anerkennung.

Revolution in Frankreich: zweite Stufe des Aufstandes

 Radikale atheistische Ideen fanden in Frankreich einen guten Nährboden – das Aufkommen des Atheismus förderte die gewaltsame Revolution. Die Kirche arbeitete mit den korrupten Monarchen zusammen, die das Volk verhungern ließen. Leitspruch von Voltaire: „Zermalmt die Niederträchtige!“ (gemeint: die Kirche). Die Aufklärung brachte ein rationales Weltbild hervor, das die Existenz Gottes nicht verneinte, aber stark beschränkte. 1793 begann die systematische Entchristianisierung der Gesellschaft, es folgte eine bis dahin nie gesehene Verhöhnung des Christentums mit Entweihung der Kirchen, Zerstörung der Gräber. Mancherorts dekorierten Revolutionäre das Vieh mit christlichen Symbolen oder steckten Betrunkene in Priesterkleider und trieben sie durch die Stadt. 1793 wurden per Gesetz alle Kirchen in Paris zu „Tempeln der Vernunft“ gemacht; Einführung des Revolutionskalenders um den christlichen Lebensrhythmus zu verändern. Orte und Straßen mit christlichen Namen (Saint) wurden umbenannt. Erst ab 1797 konnte sich die Kirche neu etablieren.

Der Pietismus: zweite Stufe der Reformation

Der englische Bürgerkrieg (1642-49) hatte zu einem für die Engländer ungewohnten religiösen Extremismus geführt. Der Regent Oliver Cromwell ließ daraufhin Weihnachten verbieten und sogar den beliebten Plum-Pudding (Weihnachtskuchen).

England war – im Gegensatz zu Frankreich – nicht atheistisch: man machte sich lustig über die Verfehlungen des Klerus, kritisierte aber den Glauben nicht. Das war teils Folge der relativ großen politischen Freiheit seit der Glorious Revolution (1688) mit Wilhelm von Oranje. Wichtiger Unterschied: Die Glorreiche Revolution und die 1. Erklärung der Menschenrechte (1688) waren bereits viel früher, gewaltfrei und erfolgreicher als die Französische Revolution. Freiheit galt als ein gottgegebenes Privileg und war ein entscheidender Faktor! Die Amerikanische Revolution fand auch früher statt (1776) und war stark religiös inspiriert. England und Amerika wurden fortan zu Bastionen der Religionsfreiheit.

Das wichtigste Bollwerk gegen den grassierenden Atheismus war aber der Pietismus. Ab 1730 wurde dieser durch die Predigten und Lieder der Brüder John und Charles Wesley sehr populär. Ihr Kernsatz: Die Kirche ist wichtig für die religiöse Lehre und deren Unterweisung, aber die Kirche garantiert nicht mehr die Rettung der Seelen. Der Pietismus entwickelte einen starken missionarischen und sozialen Charakter; Hauskreise mit gemeinsamem Bibelstudium und Gebet waren wichtiger als der Gottesdienst. Neben Theologen wurden und werden auch Laien ohne akademische Bildung als Prediger geschätzt. John und Charles Wesley gründeten in Oxford den „Holy Club“, in dem sie sich zum Bibelstudium zusammenfanden. Wegen ihres methodisch geführten Gemeinschaftslebens wurden sie als „Methodisten“ verspottet. 1735 ging Wesley mit seinem Bruder für zwei Jahre als Missionar nach Georgia. Auf der Überfahrt nach Amerika schloss er sich einer Gruppe der Herrnhuter Brüdergemeine um Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf an und war beeindruckt, als diese, Männer, Frauen und Kinder, während eines fürchterlichen Seesturms ruhig ihre Psalmen sangen, während die anderen in Panik gerieten. Nach einem Besuch in Herrnhut wurde Wesley zum Freiluftprediger, indem er den Bergarbeitern vor ihren Kohleminen predigte. Er ritt von Dorf zu Dorf um täglich vier bis fünf Predigten zu halten, er soll insgesamt 40.000 Predigten gehalten haben. Die Methodisten kämpften vehement für Reformen im Gefängniswesen und für die Abschaffung der Sklaverei, richteten Darlehenskassen zur Selbsthilfe ein usw. Charles Wesley verfasste Gedichte, in denen er Prinzipien der Bewegung in einprägsame Form brachte, er schrieb über 6000 Gedichte und dazu viele bekannte Kirchenlieder. Ein späterer Ableger war die Heilsarmee, die nach dem Motto „Suppe, Seife, Seelenheil“ missionierte.

Pennsylvania – Oase der Religionsfreiheit

William Penn, ein Anhänger des Quäkers George Fox, gründet Pennsylvania (Philadelphia), wo Religionsfreiheit garantiert war. Wegen seines Glaubens wurde er von seinem Vater verstoßen und in England mehrmals eingesperrt. Trotz des Zerwürfnisses mit seinem Vater machte dieser zweimal seinen Einfluss geltend, um die Freilassung seines Sohnes zu erwirken.

In den 1670er Jahren entwickelte er ein Modell für eine neue Siedlung in Nordamerika. Nach dem Tod seines Vaters beglich der König seine Schulden (die er dem Vater gegenüber hatte), indem er William Penn ein riesiges Gebiet in der nordamerikanischen Wildnis vermachte und ihn zum dortigen Gouverneur ernannte: Pennsylvania und Delaware. Dort wagte William Penn das „heilige Experiment“ und setzte ein System in Kraft, das auf Brüderlichkeit und persönlicher Freiheit für Siedler und Indianer beruhte. Pennsylvania wurde zu einer Zufluchtsstätte für Angehörige religiöser Minderheiten, die in Europa verfolgt oder diskriminiert wurden (Quäker, Hugenotten, Mennoniten, Böhmische Brüder, ,Juden, Katholiken, Lutheraner u.a.). Mit seinem umfassenden Wahlrecht und der vollen Religionsfreiheit war William Penn seiner Zeit weit voraus. Aufgrund der Tatsache, dass er die Indianer vor Alkohol und ausbeuterischen Weißen schützte und sich strikt an die Landabtretungsverträge hielt, blieb Pennsylvania von indianischen Überfällen verschont. Penn pflegte intensiven Austausch mit den indianischen Völkern und sprach sogar sieben Dialekte. Sein berühmter Ausspruch“ Those who will not be governed by God will be ruled by tyrants.“ („Diejenigen, die nicht von Gott regiert werden, werden von Tyrannen beherrscht werden“).

Diktatur des Proletariats: die dritte Stufe des Aufstandes

In der im 19. Jhdt. entstehenden Arbeiterbewegung kam es alsbald zur Spaltung: atheistische Sozialisten versus christliche Sozialisten (auch Utopisten genannt, weil sie vom Roman „Utopia“ von Thomas Morus inspiriert waren). Der Großteil der französischen sowie der deutschen Sozialisten bekannte sich zum Christentum, aber übten harte Kritik an den etablierten Kirchen. Das Prinzip der Freiheit spielte in ihrem Gesellschaftssystem eine geringe Rolle – Zwangsbeglückung erschien ihnen durchaus akzeptabel. Ein französischer Schriftsteller begründete das so: „Man fragt auch die Insassen einer Irrenanstalt nicht, ob sie ihr Bad nehmen wollen.“ Von hier war es nur mehr ein kleiner Schritt zur Diktatur.

Der herrschende Geist wird durch das Brecht Zitat: „….und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein“ bestens illustriert. Der christliche Sozialismus fand in Wilhelm Weitling, der 1842 „Das Evangelium des armen Sünders“ verfasste, einen beherzten Fürsprecher, der allerdings von Karl Marx & Co. entschieden abgelehnt wurde. Die weitere Entwicklung und vor allem der antichristliche Charakter des Kommunismus sind eingehend im Buch „Wahrheit und Lüge des Kommunismus“ beleuchtet.

Die dritte Stufe der Reformation: wo und wann?

Abschließend stellte Frau Mag. Barbara Grabner die Frage über die Notwendigkeit einer neuerlichen Reformation. Ihre Antwort: Ja, sie ist absolut notwendig! Im Mittelalter herrschte eine Überbetonung des Geistigen und eine oft schon extreme Religiosität – hauptsächlich ausgerichtet auf das Leben im Jenseits. Heute finden wir das umgekehrte Extrem: Überbetonung des Materiellen; Kulturleben und Gesellschaft huldigen dem Körperkult und dem Hedonismus.

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